Thermofenster: Urteile erhöhen Schadensersatzchancen!
Letzte Aktualisierung am: 14. November 2024
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Urteile des BGH und EuGH über Thermofenster stärken die Rechte geschädigter Dieselfahrer
Autokäufer, die ohne es zu wissen einen Diesel mit sogenanntem Thermofenster gekauft haben, können Schadensersatzansprüche zukünftig wegen nachweislicher Fahrlässigkeit seitens der Autoherstellers erfolgreich geltend machen. Wegweisend für diese Umkehr in der Rechtsprechung im Rahmen des Abgasskandals sind zwei aktuelle Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesgerichtshofs (BGH).
Was genau die Entscheidungen des EuGH und BGH über Thermofenster bei Diesel-Fahrzeugen für die derzeitig 100.000 noch offenen Dieselverfahren in Deutschland sowie für folgende Klagen genau bedeuten können, erläutert dieser Ratgeber. Erfahren Sie zudem, für welche Diesel mit Thermofenster das Urteil des BGH relevant ist und wie hoch die gewährte Entschädigung ausfallen kann.
Inhaltsverzeichnis:
FAQ: Thermofenster bei Diesel
Bei einem Thermofenster im Auto handelt es sich um eine im Motor des Fahrzeugs verbaute Abschalteinrichtung, welche die Abgasrückführung (Abgasreinigung) in Abhängigkeit zur Außentemperatur steuert. Sobald die Temperatur weniger als 15 oder mehr als 30 Grad beträgt, fährt das Thermofenster die Abgasruckführung herunter. In der Folge halten zahlreiche Dieselfahrzeuge in Deutschland die geltenden Abgasgrenzwerte für Diesel nicht – wie von den Herstellern versprochen -ein.
Die unzulässige Abschalteinrichtung wurde angeblich in den neuen Dieseln-Motoren mit der Euro-6-Abgasnorm verbaut. Konkret sollen illegale Thermofenster von VW in der Motorreihe EA288 installiert worden sein. Dieser Motortyp wird seit 2012 für verschiedene VW-Modelle sowie Autos von Audi, Skoda und Seat verwendet. Ähnlich verhält es sich beim Audi-Motortyp EA896 und sowie den Motorreihen OM 651 und von OM 607 von Mercedes. Falls Sie nicht sicher sind, ob ein Thermofenster in Ihrem Auto eingebaut wurde, können Sie dies beim Hersteller durch die Fahrzeugidentifikationsnummer abfragen: Diese können Sie auf der Webseite vieler Autohersteller eingeben.
Alle Fahrzeughalter, die einen Diesel mit illegalen Thermofenster besitzen, haben Anspruch auf Entschädigung. Dieselfahrern kann gemäß dem BGH-Urteil für illegale Thermofenster ein Schadensersatz von fünf bis 15 Prozent des gezahlten Kaufpreises gewährt werden. Motorhersteller können allerdings nicht für ein unzulässiges Thermofenster haftbar gemacht werden, insofern dieses von einem anderen Autohersteller im Motor verbaut wurde. Mehr dazu erfahren Sie hier. Beachten Sie zudem, dass Sie Ihren Entschädigungsanspruch innerhalb der Verjährungsfrist stellen müssen, da dieser ansonsten verfällt. Es ist empfehlenswert sich diesbezüglich von einem Anwalt beraten zu lassen.
Thermofenster: Urteile des EuGH und BGH senken die Hürde für Schadensersatzansprüche
Für den Verbau unzulässiger Thermofenster billigte der BGH betroffenen Verbrauchern bisher ausschließlich einen Schadenausgleich zu, wenn dem Autohersteller vorsätzliche und sittenwidrige Täuschungsabsicht nachgewiesen werden konnte. Dies hatten deutsche Gerichte bisher nur in Bezug auf Thermofenster beim VW-Motor-EA189 befunden.
Inzwischen wurde diese Bedingung vom EuGH in einem Urteil vom 21.03.2023 über Thermofenster bei Diesel-Motoren zurückgewiesen: Das Gericht sprach Dieselkäufern einen Anspruch auf Entschädigung auch dann zu, wenn der Autobauer beim Einbau der Abschalteinrichtung fahrlässig und ohne Betrugsabsicht gehandelt habe.
Der BGH bestätigte die Entscheidung des EuGH mit einem neuen Urteilsspruch am 26.06.2023 in Karlsruhe. Damit revidierte er nicht nur drei vorherige Urteile deutscher Gerichte, die mehrere Klagen von Autofahrer gegen große Hersteller wie VW abgewiesen hatten. Er klärte ebenfalls, was das Urteil des EuGH über Thermofenster im Einzelfall für 100.000 anhängige Dieselverfahren in der Bundesrepublik bedeuten könnte.
Übersicht vorheriger Entscheidungen des BGH im Abgasskandal
Datum | Entscheidung des Bundesgerichtshofs | Aktenzeichen |
---|---|---|
30.07.2021 | BGH entscheidet: Bei Teilnahme an der Musterfeststellungsklage stoppt die Verjährung der Schadenersatzansprüche (rückwirkend zum 1.11.2018 - Tag der Klageerhebung) | VI ZR 1118/20 |
19.01.2021 | 1. Beschluss zum Daimler-Thermofenster: Autobesitzer können Anspruch auf Schadensersatz haben, wenn Autohersteller das KBA bewusst falsch über illegale Mechanismen informiert haben. Eine endgültige Entscheidung steht noch aus. | VI ZR 433/19 |
30.07.2020 | Laut BGH-Urteil gibt es keine Entschädigung, wenn das Kfz nach dem 22. September 2015 gekauft wurde. | VI ZR 5/20 |
30.07.2020 | BGH-Urteil: Es gibt keine Entschädigung, wenn das Kfz bereits die zu erwartende Laufleistung erbracht hat - in der Regel 250.000 gefahrene Kilometer (bei größeren Kfz u. U. 300.000 Kilometer). | VI ZR 354/19 |
30.07.2020 | BGH-Urteil: Opfer des Abgasskandals erhalten keine zusätzlichen Zinsen auf den Kaufpreis. Erstattet wird nur der Kaufpreis (abzüglich der gefahrenen Kilometer). | VI ZR 397/19 |
25.05.2020 | Grundsatz-Urteil des BGH: VW muss den Kaufpreis (unter Anrechnung der gefahrenen Kilometer) dem Kläger erstatten. | VI ZR 252/19 |
08.01.2019 | (Hinweis-)Beschluss des BGH: Käufer von Kfz mit illegaler Abschalteinrichtung können Schadensersatzansprüche geltend machen. | VIII ZR 225/17 |
Für illegale Thermofenster ist ein Schadensersatz bis 15 Prozent möglich
Gemäß dem Urteilsspruch sei Verbrauchern, die unwissentlich einen Diesel mit illegalem Thermofenster erworben hatten, ein pauschaler Ausgleich in Höhe des Wertverlustes zu gewähren, der ihnen durch den Autokauf entstanden sei. Die Höhe der gewährten Zahlung unterstehe dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und bewege sich in einer Spanne zwischen fünf und 15 Prozent des Kaufpreises. Ein Schadensgutachten durch einen Sachverständigen sei zudem nicht erforderlich:
Dem einzelnen Käufer ist daher stets und ohne, dass das Vorhandensein eines Schadens als solches mittels eines Sachverständigengutachtens zu klären wäre oder durch ein Sachverständigengutachten in Frage gestellt werden könnte, ein Schadensersatz in Höhe von wenigstens 5% und höchstens 15% des gezahlten Kaufpreises zu gewähren.
Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 26.06.2023
Die individuelle Ermittlung der genauen Entschädigungshöhe im Einzelfall obliege weiterhin den Landgerichten (LG) und Oberlandesgerichten (OLG).
In Bezug auf Thermofenster urteilten EuGH und BGH zwar zugunsten der Verbraucher, dennoch kann diesen nicht vollständig garantiert werden, dass ihnen eine Entschädigung automatisch schneller zugesprochen wird. Ob die unzulässige Abschalteinrichtung in einem Dieselmotor verbaut wurde, muss in jedem Fall durch eine Einzelprüfung bestätigt werden. Zudem ist ein belastbarer Nachweis des Hersteller-Verschuldens weiterhin erforderlich. Sollte dieser nicht erbracht werden, kann eine Klage trotz der Urteilssprüche des EuGH und BGH vor einem deutschen Gericht scheitern. Aktuell geschah dies in einem Urteil des OLG Stuttgart über Thermofenster bei Mercedes.
In welchen Diesel können illegale Abschalteinrichtungen installiert sein?
Die Konzerne Mercedes, Audi und VW sollen unzulässige Thermofenster für neuere Diesel-Motoren der Euro-6-Abgasnorm verbaut haben. Im Einzelnen sollen die entsprechenden Thermofenster im Motortyp
- EA288 von VW,
- EA896Gen2BiT von Audi sowie
- OM 651 und von OM 607 von Mercedes
Die Motorreihe EA288 wird seit 2012 – unter anderem – in den VW-Modellen sowie in verschiedenen Pkw von Audi, Skoda und Seat verbaut. Dieses Thermofenster kann neben Diesel-VW auch in diesen Modell gefunden werden:
- Audi A1 8X
- Audi A3 8V
- Audi A4 B9
- Audi A5 F5
- Audi Q2 GA
- Seat Alhambra II
- Seat Ateca
- Seat Ibiza
- Seat Leon III
- Seat Toledo IV
- Skoda Fabia III
- Skoda Octavia III
- Skoda Rapid
- Skoda Superb III
- VW Amarok
- VW Beetle
- VW CC
- VW Caddy
- VW Crafter
- VW Golf Sportsvan
- VW Golf VII
- VW Passat B8
- VW Polo V
- VW Polo VI
- VW Tiguan
- VW Tiguan II
- VW Touran II
- VW T-Roc
- VW T6 (California)
- VW Sharan II
Motorhersteller können nicht für Thermofenster haftbargemacht werden
Dieselkäufer können keinen Anspruch auf Schadensersatz beim Hersteller des Motors geltend machen, wenn das Thermofenster von einem anderen Autobauer im Motor installiert worden ist. Dieses Urteil fällte der BGH am 10. Juni 2023 (Az.: VIa ZR 1119/22) im Fall eines Klägers, in dessen Porsche ein Audi-Dieselmotor mit illegaler Abschalteinrichtung installiert worden war. Der BGH wies die Klage mit der Begründung ab, dass Entschädigungsansprüche lediglich gegen den Fahrzeughersteller (in diesem Fall Porsche) bestünden. Diese habe nämlich angegeben, dass das Fahrzeug den EU-Vorgaben entspreche. Der Motorhersteller hingegen habe hiermit nichts zu tun.
Thermofenster bei Mercedes: OLG Stuttgart verneint die Haftung
Am 27. Juli 2023 verhandelte der 24. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart (OLG Stuttgart) über vier Pkw-Modelle von Mercedes mit Thermofenster (Az. 24 U 1796/22 u.a.). Es handelte sich um Pkw mit den Motoren OM 607 und OM 651, die in einigen Modellen vom TYP CLA und GLA sowie in der A- und B-Klasse verbaut werden. Der Sachverhalt bezog sich auf drei verschiedene Abschalteinrichtungen.
Ob die Abschalteinrichtungen der Diesel-Fahrzeuge von Mercedes als illegal zu bewerten sein, wurde nicht geklärt. Allerdings verneinte das OLG Stuttgart die Haftung des Autoherstellers. Die Richter des OLG Stuttgart führten aus, dass die Autohersteller sich – so der vorsitzende Richter Thilo Rebmann – scheinbar in einem “unvermeidbarem Verbotsirrtum” befänden.
Bis 2022 nämlich habe das Kraftfahrtbundesamt in Flensburg jedes Thermofenster genehmigt. Selbst wenn keine tatsächliche Genehmigung vorliegen würde, könne eine “hypothetischen Genehmigung” zum Zeitpunkt des Autokaufs angenommen werden. Deshalb sei dem Hersteller keine Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Folglich könne dieser für die Thermofenster -trotz EuGH-Urteil und dessen Bestätigung durch den BGH – nicht haftbar gemacht werden.
Der BGH hatte bei seiner Urteilsverkündung im Juni explizit auf die Bejahung eines Verbotsirrtums hingewiesen. Die Freigabepraxis des Kraftfahrtbundesamts hatte das Gericht allerdings nicht in Frage gestellt.
Ein Entschädigungsanspruch könnte allerdings bei einer anderen Abschalteinrichtung vorliegen, die ausschließlich in Mercedes-Fahrzeugen verbaut wird: die sogenannte sogenannte Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR). Bei der Urteilsverkündung bekundeten die Richter den Verdacht, dass es sich bei KSR um eine illegales Abschalteinrichtung handeln könne. Mercedes habe in diesem Fall möglicherweise nicht die Chance sich auf ein unvermeidbares Verbotsirrtum berufen zu können.
Quellen und weiterführende Links
- Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs zum Differenzschaden in "Dieselverfahren" nach dem Urteil des EuGH vom 21. März 2023 (C-100/21)
- Pressemitteilung des Gerichtshofs der Europäischen Union - Nr. 51/23